Thema mit Variationen
Auf meiner Pilgerreise durch Spanien stand ich endlich vor der Kathedrale in Santo Domingo de la Calzada. Da drin sollte sich also der berühmte Hühnerstall befinden? Die Legende dazu war mir bekannt. Auch hatte ich einiges über das Wirken des Weg- und Brückenbauers Dominikus von der Strasse gelesen. Was sollte es daran zu zweifeln geben? Hier, in einer Herberge in Santo Domingo de la Calzada muss es gewesen sein, wo sich im Mittelalter die Geschichte des "Galgen-" und des „Hühnerwunders“ abspielte:
Eine Legende …
Eine Wirtstochter verliebte sich in einen deutschen Pilger, der mit seinen Eltern auf dem Weg zum Grab des heiligen Jakobus in der Herberge eingekehrt war. Der Sohn aber wollte von der Wirtstochter nichts wissen. Als Rache für die verschmähte Liebe steckte sie ihm einen goldenen Becher in den Mantel. Beim Verlassen der Herberge schrie sie: „Halt, Diebe!“. Schnell nahmen die Dinge ihren Lauf. Der Jüngling wurde des Diebstahls überführt, verurteilt und gehängt. Als die betroffenen Eltern nach vollendeter Pilgerreise wieder in Santo Domingo de la Calzada vorbeikamen, fanden sie ihren Sohn lebend am Galgen. „Der heilige Dominikus hat mich die ganze Zeit gehalten“, sagte der Sohn. Die Eltern eilten zum Richter, der dies nicht glauben mochte und meinte: „Euer Sohn ist genau so tot, wie die zwei gebratenen Hühner, die gerade aufgetischt werden.“ Kaum gesagt, wuchsen den Hühnern Federn, sie sprangen vom Spiess und flatterten vom Tisch. Alle eilten sie zum Galgen. Man band den Jüngling los, während die Schuldige rasch gefunden war. Statt des Sohns wurde die Wirtstochter gehängt.
… unterschiedlich erzählt
Schon in Tafers bei Freiburg war ich der Legende begegnet. An einem Aussenfresko der Jakobskapelle kann man dort die Darstellung des Hühnerwunders bewundern, allerdings mit einer Abweichung: Nicht Dominikus, sondern der heilige Jakobus stützt den Knaben. Heisst das, die gleiche Geschichte habe sich auch in Tafers zugetragen? Neugierig geworden, begab ich mich auf die Suche nach weiteren Abbildungen der Legende des Galgen- bzw. Hühnerwunders. Ich musste nicht weit suchen. In der Sakristei der heute christkatholischen Augustinerkirche in Zürich befinden sich Reste von Wandmalereien zu diesem Thema. Die dazugehörige Geschichte stimmt mit der Version von Tafers überein. Insgesamt habe ich in der Schweiz 10 Orte gefunden, die an das Galgen- und Hühnerwunder erinnern. Ich habe sie auf einer eigenen Seite zusammengefasst.
Auch in Südtirol, Süddeutschland und im Elsass finden sich zahlreiche Darstellungen des Galgen- und des Hühnerwunders. Aus der näheren Nachbarschaft seien erwähnt:
- Konstanz: Rosgartenmuseum
- Überlingen: Fresko in der Jodokkapelle
- Winnenden (Partnerstadt von Santo Domingo de la Calzada), ehemalige Pfarrkirche St. Jakob, heute Schlosskirche: Flügelaltar
- Rothenburg ob der Tauber, evangelische Kirche St. Jakob: Rückseite des Zwölf-Boten-Altars.
- Tramin, Südtirol: Fresko in der Filialkirche St. Jakob in Kastellatz
- Tschötsch, Südtirol: Fresko in der Filialkirche St. Jakob in der Mahr (gemalt 1461 vom Maler Leonhard von Brixen)
- Colmar: Musée d’Unterlinden: Flügelaltar
Die Vielzahl der Darstellungen kommt nicht von ungefähr. Der Hühnerstall in Santo Domingo de la Calzada war schon immer eine Sensation, und die Legende aus dem Mittelalter, die sich auf den Pilgerwegen schnell verbreitet hatte, hat mancherorts Künstler zu Darstellungen angeregt. Mittelalter? Erst im Juli 2002 wurde an der Südwand der Jakobuskapelle in Wöllstein ein grosses, fünfteiliges Gemälde des Priesters und Künstlers Sieger Köder mit der Darstellung des Hühnerwunders angebracht. Wöllstein (Gemeinde Abtsgmünd) liegt am fränkisch-schwäbischen Jakobsweg von Würzburg nach Ulm.
Die Legende fasziniert also immer noch. Aber woher stammt sie? Beweist das Vorhandensein des Hühnerstalls in Santo Domingo de la Calzada, dass der Ort zugleich als Ort des legendären Geschehens anzusehen ist? Warum aber gab es zum Gedenken an das Galgenwunder einst auch in der Jakobskapelle neben der alten Fuldaer Stiftskirche einen Hühnerstall? Im Zuge der Barockisierung wurde der „Hünnner Hort“ abgebrochen, so dass heute in Fulda keine Spuren mehr davon zu sehen sind.
In einem offiziellen Reliquienverzeichnis (Bulle) von Papst Clemens VI. aus dem Jahre 1350 wird der Hühnerkäfig in Santo Domingo de la Calzada zum ersten Mal aufgeführt und als verehrungswürdig eingestuft. Da der jetzige Käfig aus dem 16. Jahrhundert stammt, muss es einen Vorgängerkäfig gegeben haben.
Älteste Überlieferung
Das Galgenwunder wird im Mirakelbuch des Codex Calixtinus (2. Buch des Liber Sancti Jacobi) aus dem 12. Jahrhundert als erstes von insgesamt 22 Wundern erzählt, die der heilige Jakobus bewirkt haben soll. Diese älteste Fassung der Legende führt als Ort der Handlung Toulouse, nicht Santo Domingo an. Das Ereignis fand gemäss dieser ältesten Quelle im Jahre 1090 statt. Bösewicht ist der unfreundliche Gastwirt, seine Opfer sind deutsche Jakobspilger. Eine Wirtstochter tritt nicht in Erscheinung. In gleicher Form wird die Legende in der 1293 entstandenen Legenda Aurea des Jacobus de Voragine erzählt. Allerdings wird dort das Wunder bereits auf 1020 datiert.
In späteren Erwähnungen wird das Galgenwunder nach Gelferate, dem heutigen Belorado, verlegt. Erst der in Santo Domingo aufbewahrte Codex Calceatense aus dem 13. Jahrhundert siedelt das Wunder erstmals in der Stadt des Weg- und Brückenbauers an, wobei die Opfer nicht deutsche, sondern englische Pilger sind. Auch rettet nicht Jakobus dem Sohn das Leben, sondern der Lokalheilige Dominikus.
Im 15. Jahrhundert schmückte Nompar Seigneur de Caumont die Legende aus. Nompar de Caumont unternahm 1417 eine Pilgerfahrt nach Santiago und berichtete darüber in seinem Reisebericht „Voiatge a Saint Jaques en Compostelle et a Notre Dame de finibus terrae“. Erstmals taucht darin die Wirtstochter als Verantwortliche für die böse Tat gegenüber dem jungen Pilger auf, der jetzt wieder ein Deutscher ist. Motiv ihres Handelns ist verschmähte Liebe.
Allen unterschiedlich erzählten oder dargestellten Varianten des Galgen- bzw. Hühnerwunders, denen wir als Jakobspilger begegnen, gemeinsam ist der Kern der Legende: Pilger sind auf ihrer Reise auf Menschen guten Willens angewiesen, die sie gastfreundlich aufnehmen. Die Gastfreundschaft kann zwar verweigert oder missbraucht werden. Doch wer aus unlauteren Motiven gegen das heilige Gebot der Gastfreundschaft verstösst, soll unmissverständlich wissen, welche Strafe ihn erwartet.
Literatur: Erich Baierl, „Da sprungen due huener zu hant ab dem spiesz…“: die Legende des Galgen- und Hühnerwunders des hl. Jakobus mit besonderer Berücksichtigung der Tradition Frankens. Würzburg: Fränkische St.-Jakobus-Gesellschaft; Volkach: Zentgraf, 2004. 77 S., Ill. ISBN 3-928542-56-7.
Fresko in Wöllstein (D)